Pest in Athen und ihre Folgen (430 v. Chr.)

Prof. Dr. Christoph Helm weist auf die erste detaillierte Beschreibung einer pandemischen Seuche in der abendländischen Literatur durch den griechischen Historiker Thukydides (circa 460 – 400 v. Chr.) in dessen Darstellung des Peloponnesischen Krieges (431 – 404 v. Chr.) hin, die historische Parallelentwicklungen zur Situation unserer Gegenwart enthält.

Wenn ich es richtig sehe, dann hat der bedeutende antike Historiker Thukydides (circa 460 – 400 v. Chr.) in seiner unvollendet gebliebenen Darstellung des sogenannten Peloponnesischen Krieges zwischen Sparta und Athen (431 – 404 v. Chr.) zum ersten Mal in der abendländischen Literatur die detaillierte Beschreibung einer pandemischen Seuche geliefert (Thuk. II, 47 – 54). Wenngleich diese Seuche, zumal sie Athen im Kriegszustand befiel, offensichtlich eine größere Gefährlichkeit besaß als die derzeitige Pandemie und auch wenn man die Grundüberzeugung des Thukydides nicht teilt, dass man aus dem von ihm Beschriebenen „auch das Künftige, das wieder einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein wird“ , wird erkennen können ( Thuk. I, 22. Das sogenannte Methodenkapitel ), so lassen sich doch an seiner Darstellung des Verlaufes und vor allem seiner Bewertung der politischen Folgewirkungen der Seuche zu vermeidende Eventualitäten auch gegenwärtig möglicher Entwicklungen erkennen.

Denn in der Analyse des Thukydides bewirkte die damalige Seuche durch die durch sie ausgelösten Faktoren die Schwächung und letztlich das Ende der attischen Demokratie und die Auflösung des attisch-delischen Staatenbundes.

Die Seuche traf das demokratische Athen im Sommer des zweiten Kriegsjahres, als bedingt durch die defensive Kriegsstrategie des Perikles die attische Bevölkerung in dem durch die langen Mauern gesicherten Gebiet zwischen Piräus und Athen eingezwängt war, während Spartas Truppen Attikas Felder verwüsteten. Zur Herkunft der Seuche schreibt er:

„Sie begann zuerst, so heißt es, in Äthiopien oberhalb Ägyptens und stieg dann nieder nach Ägypten, Libyen und in weite Teile von des Großkönigs Land. In die Stadt Athen brach sie plötzlich ein und ergriff zunächst die Menschen im Piräus… Später gelangte sie auch in die obere Stadt, und da starben die Menschen nun erst recht dahin“. (Thuk. II, 48.)

Was folgte, war eine große Machtlosigkeit der Ärzte gegen die unbekannte Krankheit, die ihr als erste zum Opfer fielen. Die Symptome waren starke Hitze im Kopf und Rötung und Entzündung der Augen, blutigrote Zunge und Schlund sowie übelriechender Atem. Es folgten Niesen und Heiserkeit sowie starker Husten, bis dann die Seuche, der mittelalterlichen Pest vergleichbar, die inneren Organe ergriff und zerstörte. Starke innere Hitze war die Folge verbunden mit Blasen und Geschwüren an der äußeren Haut, bis dann nach 7 bis 9 Tagen der Tod eintrat.

Aus der Unerklärbarkeit der Krankheit erfolgten Vermutungen, die Spartaner hätten die Brunnen vergiftet, und mit der Dauer der Seuche veränderte sich angesichts der Größe des Leidens und der Entbehrungen das soziale Verhalten der Menschen. Eingedrängt auf engem Raum gaben sich viele der Mutlosigkeit hin, wurden abgestumpft und mitleidlos. Andere wieder suchten hemmungslos den Genuss des Augenblickes, der ihr letzter sein könnte, und folgten schrankenlos ihren Trieben.

Als nun im Verlauf des Sommers die Seuche nicht aufhörte und gleichzeitig infolge des Massensterbens und der Verwüstungen des Krieges die Wirtschaft zusammenbrach, konzentrierte sich der Zorn der Athener auf Perikles und seine Herrschaft, der sie die Schuld an all ihrem Unglück zuwiesen. In dieser Krise der attischen Demokratie, die nun eintrat und durch eine starke Orientierungslosigkeit charakterisiert war, gelang es Perikles nicht mehr, sein politisches Erbe zu sichern. Demagogische Strömungen gewannen die Oberhand, die auf eine Änderung der politischen Strategie hinarbeiteten und innere Wirren, Zwietracht und Unsicherheit bewirkten. Unter Kleon, dem Nachfolger des Perikles im Strategenamt, und danach unter Alkibiades erfolgte die kompromisslose Hinwendung zu einem populistischen aggressiven Agieren, das dem Volk Machtgewinn und Sicherheit vorgaukelte, aber in Wirklichkeit nur Einzelnen diente und die Demokratie ruinierte. Thukydides bewertet ihr Handeln wie folgt:

„Sie… rissen außerdem aus persönlichem Ehrgeiz und zu persönlichem Gewinn den ganzen Staat in Unternehmungen, die mit dem Krieg ohne Zusammenhang schienen und die, falsch für Athen selbst und seinen Bund, solange es gut ging, eher einzelnen Bürgern Ehre und Vorteil brachten, im Fehlschlag aber die Stadt für den Krieg schwächten“. (Thuk. II, 65.)

Aufgrund dieser Verantwortungslosigkeit populistischer Demagogen, die ohne ethische Maßstäbe das Recht des Stärkeren postulierten, kam es bezüglich der Kriegsführung und im Verhältnis zu den Bundesgenossen und den neutralen Staaten zu gravierenden politischen Fehleinschätzungen Athens. Diese führten nicht nur in die Niederlage der Stadt, die den demokratischen Strukturen angelastet wurde, sondern bewirkten auch die Krise des attisch-delischen Staatenbundes, des Zusammenschlusses der demokratisch regierten meist ionischen hellenischen Staaten. Dieser im Ergebnis des Freiheitskampfes der Hellenen gegen Persien unter Athens Führung entstandene Bund hatte zunehmend seine auf die Wahrung der gemeinsamen Interessen und des gemeinsamen Wohles der Bundesgenossen hin ausgerichtete Legitimation und innere Berechtigung eingebüßt, da die Vorherrschaft der Zentrale Athen Selbstzweck geworden war. Am Ende dieser Entwicklung stand beides: Die Ablösung der attischen Demokratie durch ein oligarchisches System und das Ende des attisch-delischen Staatenbundes.